Motorradsicherheit
Crash im Dienst der Wissenschaft
Bislang sind von Bosch 18 Motorräder gezielt zerstört werden. Hersteller- und fahrzeugunabhängig werden sowohl Sportbikes wie Tourer oder Reiseenduros gecrasht.
Von Ulf Böhringer/SP-X
Auch wenn das Motorradfahren von vielen Menschen als vergnüglich, erfreulich oder entspannend empfunden wird: Es ist ganz zweifelsohne auch gefährlich. Kommt es, weshalb auch immer, zu einer Kollision, haben Motorradfahrer naturgemäß schlechte Karten. Verbessern können sie ihre Ausgangsposition durch konsequentes Tragen geeigneter Schutzkleidung.
Nicht wettmachen können sie den grundsätzlichen Nachteil der nicht vorhandenen Knautschzone. Selbst wer als Motorradfahrer eine Airbag-Jacke trägt, kann damit sein Risiko, statistisch gesehen, nur geringfügig verringern. Bosch hat es sich schon lange auf die Fahnen geschrieben, die Überlebensmöglichkeiten verunfallter Motorradfahrer zu verbessern, indem das Zweirad technisch weiterentwickelt wird. Nötig ist für die Entwicklung lebensrettender Sicherheitssysteme aber vor allem das Wissen darum, was bei Unfällen passiert und wie sich die Unfallabläufe gestalten. Dafür crasht Bosch gleich reihenweise Motorräder.
Die Simulierung von Unfallszenarien soll helfen, einen sogenannten "Emergency Assistant" zu entwickeln, der vom Unfallort aus automatisch Kontakt zu einer Rufleitstelle aufnimmt und auf diese Weise die Abläufe der Rettungskette beschleunigt. Bei neuen Pkw sind eCall-Systeme bereits seit dem 31. März 2018 Pflicht, bei Motorrädern wird über ihre Einführung diskutiert. Lediglich BMW bietet ein solches System für die meisten seiner Motorradmodelle bereits an; der Mehrpreis liegt bei 325 Euro. Ein Smartphone oder eine freigeschaltete SIM-Karte sind bei diesem System nicht erforderlich; es funktioniert in Deutschland und in den meisten europäischen Ländern.
Sachlage muss eindeutig sein
Um die Rettungskette im Falle eines Unfalles aber anlaufen zu lassen, muss die Sachlage eindeutig sein; ein Motorrad darf nicht nur im Stand umgefallen, sondern es muss real verunglückt sein. "Dazu benötigen wir einerseits sehr intelligente Sensoren", sagt der bei Bosch tätige Diplom-Mathematiker Thomas Lich, aber man brauche auch mathematische Algorithmen, die auf einer möglichst umfangreichen Datenbasis beruhen.
Ein Sensor der kaum größer ist als ein 50 Cent-Stück, kann mit Daten von ABS und die MSC (Motorcycle Safety Control) mit großer Sicherheit einen Sturz des Fahrzeugs erkennen und gibt in der Folge den Startschuss für den Anlauf der Rettungskette.
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Freilich können die Bosch-Entwickler ihre Algorithmen nur auf der Basis exakt reproduzierbarer Fahrtests, sowie bei Stürzen und Unfällen entwickeln. Auf der Strecke werden Alltagsszenarien erprobt, in der Folge werden die technischen Anforderungen an die Systeme abgeleitet. Im Falle des Emergency Assistant wird geklärt: In welchen Situationen liefern die Beschleunigungssensoren Daten, die nicht auf einen Unfall hindeuten? Das kann beim Passieren von Schlaglöchern, bei der Fahrt über eine Bordsteinkante oder eben bei einem Umfaller der Fall sein. Deshalb unternimmt man auch Crashversuche; bislang sind von Bosch 18 Motorräder gezielt zerstört werden. Hersteller- und fahrzeugunabhängig werden sowohl Sportbikes wie Tourer oder Reiseenduros gecrasht.
Ein gewichtiges Wort hat dabei die hausinterne Unfallforschung mitzureden. "Bevor wir Produkte entwickeln können, müssen wir kritische Situationen verstehen", so Thomas Lich, Leiter der Forschungsabteilung. Dazu gehört auch die konsequente Auswertung von Daten aus den Unfallregistern von Versicherern und von Archiven wie GIDAS; dabei handelt es sich um die größte Unfalldatenerhebung in Deutschland. Sie läuft seit 1999.
Kurve bei Motorradfahrern schwankt
Während in Deutschland bei den Autos im Lauf der vergangenen zehn Jahre ein deutlicher Rückgang der bei Unfällen getöteten Personen registriert werden konnte, verläuft die Kurve bei den Motorradfahrern nicht in eine eindeutige Richtung: 2009 lag der Wert bei 650 Toten, erreichte 2016 mit 536 Toten seinen bisherigen Tiefststand und klettere bis 2018 wieder auf 619 Tote; die Zahl für 2019 ist noch nicht bekannt. Um die Jahrtausendwende waren regelmäßig noch knapp 1.000 tödliche verunglücke Motorradfahrer zu beklagen, obwohl die Fahrleistungen weitaus geringer waren als zuletzt. Einen starken Einfluss auf die Zahl der Unfälle, Verletzten und Toten des Motorradsegments hat das Wetter: Motorradfahren ist hierzulande für die meisten Fahrer ein Freizeitvergnügen, dessen Intensität mit trockenem Schönwetter erheblich steigt. "Gelingt es, im Falle des Falles die Rettungskette schnell genug anlaufen und konsequent ablaufen zu lassen, dann können aus Toten Schwerverletzte und aus Schwerverletzten geringfügiger Verletzte werden", ist man bei Bosch überzeugt.
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(Foto: Bosch)
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