Motorrad-Crashtest
Mit dem Kopf durch die Scheibe ins Heck
Ein sehr realitätsgetreuer Crashtest zeigt, dass Motorradfahrer bei zu geringem Abstand auf ein vorausfahrendes Auto keine Chance haben, den Aufprall zu vermeiden.
Es regnet stark auf dem Freigelände der Firma Crashtest-Service in Münster. Hochgeschwindigkeitskameras laufen, eine mit Videokamera ausgerüstete kleine Drohne surrt in etwa sieben Metern Höhe. Gespannt schauen die Beobachter auf die Stelle, an der in wenigen Sekunden dokumentiert werden soll, was passiert, wenn ein Motorradfahrer einem Auto ins Heck kracht.
Der gelblackierte Ford Focus Kombi kommt mit Tempo 65 von links auf der Crashbahn, mit etwa vier Metern Abstand folgt eine rote Kawasaki ER-5. Die 186 Kilo schwere Maschine ist unverkleidet und von einem Dummy besetzt. Er trägt eine schwarze Hose, eine orangefarbene Warnweste über einer Textiljacke, einen schwarzen Integralhelm und Bergstiefel an den Füßen. Plötzlich bremst der Kombi stark auf ca. 30 bis 35 km/h ab, das Motorrad prallt Sekundenbruchteile später mit 64 km/h ins Heck des Ford. Der Dummy fliegt über den Tank seines Motorrads, prallt ans Fahrzeugheck, die Heckscheibe zersplittert und Kopf sowie Oberkörper des Dummy dringen tief in den Kombi ein.
Einige Meter später steht der Focus still. Das Motorrad liegt ein Stück hinter dem gelben Kombi auf der linken Seite, der Dummy ist vom Auto wieder abgeglitten und liegt verkrümmt direkt hinter dem Fahrzeug. Betroffene Gesichter bei den Beobachtern. Ob ein Mensch einen solchen Aufprall wohl überlebt? Niemand mag sich den realen Ablauf so richtig vorstellen.
Unfall im Längsverkehr
Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV), hatte zuvor erläutert, warum exakt dieser Crashtest zur Ausführung kommt: "In 48 Prozent aller Kollisionsunfälle, die vom Motorradfahrer verursacht werden, handelt es sich um einen Unfall im Längsverkehr." Gemeint ist damit, beide Fahrzeuge sind in derselben Richtung unterwegs, der Motorradfahrer prallt also von hinten auf den vor ihm fahrenden oder auch stehenden Wagen auf. "Der Grund für solche Unfälle liegt im zu geringen Abstand zwischen beiden Fahrzeugen", so Brockmanns Analyse. Viele dieser Unfälle könnten vermieden werden, wenn der Motorradfahrer konzentrierter wäre und den Abstand zum vorausfahrenden Auto deutlich größer halten würde, so dass man auch von einem Sicherheitsabstand sprechen könnte.
In der neuen UDV-Studie wurden alle 194 schweren Unfälle mit Motorradbeteiligung erfasst und exakt ausgewertet, die sich zwischen Mai 2010 und Dezember 2011 im Saarland ereignet haben. Herausgekommen ist die Erkenntnis, dass mehr als zwei Drittel aller Kollisionsunfälle vom Unfallgegner des Motorradfahrers verursacht werden; in knapp einem Drittel ist der Motorradfahrer schuld am Crash. In 50 der insgesamt 154 erfassten Kollisionsunfälle im Saarland war der Motorradfahrer Verursacher, in fast der Hälfte dieser Kollisionen prallte er auf ein Fahrzeug auf, das in gleicher Richtung unterwegs ist oder war wie er selbst.
Ein-, Abbiege und Kreuzungsunfälle sind dagegen mit 52 Prozent am häufigsten, wenn der Unfallgegner des Motorradfahrers als Verursacher der Kollision festgestellt wird. "Um die Zahl dieser Unfälle zu reduzieren, ist besonders vorausschauendes, defensives Fahren erforderlich", so Siegfried Brockmann.
Regelmäßige Fahrtrainings
Die wichtigsten Schlussfolgerungen aus der neuen UDV-Studie: Regelmäßige Fahrtrainings sind eine wichtige Maßnahme, um die Verkehrssicherheit von Motorradfahrern zu erhöhen. "Der Mensch selbst ist der entscheidende Faktor", so Brockmann. Mehr Abstand im fließenden Verkehr und auch leicht zur Seite versetztes Fahren erhöhen ebenfalls die Sicherheit. Ganz wichtig ist in den Augen der Verkehrssicherheits-Experten auch, dass man am Lenker hundertprozentig bei der Sache ist.
"Immerhin neun Prozent der Motorradfahrer, die einen Auffahrunfall verschuldet haben, haben vorher nachgewiesenermaßen keinerlei Reaktion gezeigt", weiß Brockmann. Sie haben weder gebremst noch einen Ausweichversuch gestartet, sondern sind "einfach draufgefahren". Und diese neun Prozent waren dann mit 61 bis 90 km/h auf das Hindernis geprallt. Überlebenschance: So gut wie null, "denn das überlebt man nur durch Zufall", sagt Brockmann.
Beim gezeigten Crashtest zwischen der roten Kawa und dem gelben Ford beträgt die Differenzgeschwindigkeit nur knapp 30 km/h, wie es auch in der weit überwiegenden Mehrzahl der Auffahrunfälle, nämlich 61 Prozent, der Fall ist. Schon dieses Szenario reicht freilich allen Beobachtern, um sich überhaupt nicht mehr wohl zu fühlen. (sp-x)
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(Foto: UDV)
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