Fußgänger-Sicherheit im Straßenverkehr
Opfer, Täter, Hätschelkind
Eine fußgängerfreundliche Stadt muss nicht im Widerspruch zum Autoverkehr stehen. Allerdings müssen Autos künftig so gerüstet sein, dass ein Unfall mit Fußgängern unmöglich wird.
Bevor das Automobil zum Massenphänomen wurde, waren Straßen ein Lebensraum für alle. In der Zeit vor der Motorisierung der Gesellschaft beschreibt etwa der Historiker Kurt Möser in seinem Buch "Geschichte des Autos" die Straße als Freiluftbegegnungsort, wo Kinder spielten und sich Tiere und Fußgänger weitgehend frei von Regeln in harmloser Anarchie bewegten. Fußgänger konnten sich dereinst in Sicherheit wiegen, da die Geschwindigkeiten aller Straßennutzer gering waren.
Um 1900 änderte sich das dramatisch. Waren es zunächst einige wenige Automobile, legten sie fortan in Zahl sowie Tempo rasant zu. Vorerst herrschte im Verkehr weiter Anarchie, mit allerdings zunehmend tödlichen Konsequenzen, was wiederum einen Krieg um die Straße entfesselte, wie Möser anhand schauerlicher Anekdoten aufzeigt. Den chaotischen Zuständen folgte eine Regulierungswut, in deren Folge in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg in vielen Industrieländern ein massiver Umbau der Verkehrssysteme mit klarem Fokus auf die Privilegierung des Automobils folgte. Der Fußgänger spielte fortan im Straßenverkehr eine untergeordnete Rolle und war an den Schnittstellen zu den Verkehrswegen der Autos zunehmend Gefahren ausgesetzt. Der Blutzoll der beschleunigten Verkehrssysteme weltweit war über viele Jahrzehnte hinweg enorm. Wir haben uns daran gewöhnt, dass Eltern sich erschrecken, wenn sie Notarztsirenen hören, während ihre Kinder draußen spielen.
Wohl auch wegen der vielen Verkehrstoten hat über Jahrzehnte ein Umdenken eingesetzt, um Straßen für Fußgänger wieder sicherer und lebenswerter zu machen. Vor allem Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit geben Anlass zur Hoffnung, dass wir sogar zu den eingangs erwähnten Zuständen im Einklang mit einem weiterhin hochmotorisierten Individualverkehr zurückkehren könnten.
Straße für Fußgänger weiterhin gefährlich
Vorläufig bleibt die Straße für Fußgänger jedoch gefährliches Terrain, wie auch jüngere Zahlen des Statistischen Bundesamtes (Destatis) belegen, die allerdings zugleich eine schon länger anhaltende Trendwende dokumentieren. Wie bereits seit Jahrzehnten ist auch zwischen 2018 und 2021 die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Fußgänger weiter gesunken: von 459 auf 343 und somit um 25 Prozent. Dabei war der Rückgang bei den Fußgängern am stärksten, während sich die Zahl aller im Verkehr getöteten Personen um 21,7 Prozent verringerte. Zum Vergleich: Bei Pkw-Insassen betrug das Minus im gleichen Zeitraum 21,5 Prozent, bei den Krafträdern rund 24 Prozent, bei Radfahrern hingegen nur 16,4 Prozent.
Schaut man auf das Jahr 2021, handelte sich bei rund 14 Prozent aller im Straßenverkehr getöteten Personen um Fußgänger. Fußgänger sind also nicht die größte, jedoch die Opfergruppe, die aller Autofahrermythen zum Trotz zudem nur äußerst selten Täter ist. Bei allen Unfällen mit Personenschaden im vergangenen Jahr wurden Fußgänger nur zu 2,5 Prozent als Hauptverursacher ermittelt. Bei Personenkraftwagen betrug der Anteil hingegen 62 Prozent. Von Autos geht außerdem die größte tödliche Gefahr für Fußgänger aus. 245 der 417 getöteten Fußgänger in 2019 kamen bei Unfällen mit Pkw ums Leben. Vergleichsweise hoch ist außerdem der Anteil von Lkw, danach folgen Straßenbahnen und Busse. Fahrräder und Mopeds töten Fußgänger hingegen nur sehr selten.
Doch die Zahlen von Destatis weisen auch Fehlverhalten von Fußgängern als ursächlich für Unfälle mit Personenschäden aus. Rund 10.000 Unfälle wurden 2021 auf deutschen Straßen gezählt, an denen Fußgänger die Hauptschuld tragen. Gut 70 Prozent sind auf falsches Verhalten beim Überschreiten von Fahrbahnen als ursächlich genannt. Mehr als die Hälfte davon ist schlicht auf Unachtsamkeit der Fußgänger zurückzuführen, rund 14 Prozent ist „plötzlichem Hervortreten hinter Sichthindernissen“ geschuldet. Auch Alkoholeinfluss begünstigt Fehlverhalten der Fußgänger.
Fußgänger verunfallen überwiegend in der Stadt
Unfallschwerpunkt für Fußgänger ist eindeutig die Stadt. Der weit überwiegende Teil der Unfälle mit verletzten oder getöteten Fußgängern wurde innerorts registriert. Von den 223 allein in diesem Jahr von Januar bis August im Straßenverkehr getöteten Fußgängern gehen 168 auf das Konto von Unfällen im urbanen Umfeld. Tödliche Unfälle mit Pkw-Insassen werden hingegen wesentlich häufiger außer- als innerorts gezählt. Darüber hinaus gehören die verletzten oder getöteten Fußgänger in überwiegender Zahl älteren Kohorten an. 2019 waren 56 Prozent der getöteten Fußgänger über 65. Der Anteil von Männern lag 2019 mit 236 vs. 181 deutlich höher.
Will man den Fußgängerschutz vorantreiben, muss der mancherorts punktuell bereits vollzogene Wandel des Verkehrs im urbanen Umfeld weiter vorangetrieben werden. Das Stichwort hier ist die Verkehrswende, für die sich mittlerweile viele positive Beispiele finden. Prominent sind die Umwidmung des rechten Seine-Ufers in Paris zur autofreien Fußgängerpromenade oder die weitgehend autofreien Superblocks in Barcelona. Hier kehrt nicht nur reges Leben in die Straßen ohne Autos zurück, sie werden für Fußgänger zudem sicherer. Doch befinden wir uns auf dem Weg in die autofreie Stadt? Diese Vision scheint eher Utopie als greifbare Zukunft. Das zeigte sich etwa im Mai 2022 auf der Micromobility Expo in Hannover, auf der im Rahmen eines Diskussions- und Beitrags-Forums mit etlichen Vorträgen viele längst bekannte Ansätze und Ideen zur Verkehrswende diskutiert wurden. In den zahlreichen Gesprächen und Vorträgen wurde allerdings immer wieder deutlich, dass sich viele gut gemeinte und erfolgversprechende Maßnahmen angesichts zahlreicher Widerstände nur schwer oder eben gar nicht in die Tat umsetzen lassen. Das beste Beispiel sind hier Tempolimits, die schnell umsetzbar wären und effektiv dazu beitragen könnten, Unfälle zu verhindern oder Unfallfolgen zu mildern. Doch Vorstöße in diese und andere Richtungen scheitern immer wieder an der Politik und an der autofreundlichen Auslegung der Straßenverkehrsordnung auch durch Gerichte.
Deutlich vielversprechender erscheinen da die Impulse der Vision Zero der EU, die als fernes Ziel ein Absenken der Verkehrstoten auf null vorsieht. Viele Maßnahmen der Verkehrspolitik zahlen bereits auf dieses Ziel ein. Doch entscheidender für das seit Jahrzehnten messbare und künftig geforderte Abschmelzen der Verkehrstoten auf die Zahl Null dürfte neue Technik in Autos werden. Besonders vielversprechend snd dabei die in neuen Autos mittlerweile allgegenwärtigen Assistenzsysteme wie etwa Kollisionsverhinderer, die sehr erfolgreich dabei sind, Unfälle zu verhindern oder deren Folgen zu mildern. In zunehmend mehr Autos reagieren diese Systeme auch auf Radfahrer und Fußgänger. Wichtig dabei ist: Der Faktor Mensch wird hier als Unfallverursacher Nummer 1 weiter marginalisiert. Doch die Assistenzsysteme sind nur ein Anfang. Das Fernziel ist, die dem Fahrer geschuldete Fehleranfälligkeit eines Tages vollständig zu eliminieren. Künftig werden entsprechend mehr Fahraufgaben von den Bordcomputern der Autos kontrolliert, bis wir Schritt für Schritt in eine vollständig autonom fahrende und wohl außerdem lokal emissionsfreie Welt des Autoverkehrs vordringen. Für ein gefahrloses Miteinander im dichten Straßenverkehr der Städte wäre diese Zukunft der Königsweg, auf dem der Fußgänger, die für ihn wieder sichere Straße zurückerobern könnte.
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