25 Jahre ESP
Nach dem "Elchtest" sehr begehrt
Ein legendärer Unfall brachte den Durchbruch für das ESP.
Dass er an etwas Großem feilt, das war Anton van Zanten immer klar. Und auch, dass es funktionieren würde. "Ich war davon überzeugt, dass das ESP das Schleudern und damit schwere Unfälle verhindern wird", sagt van Zanten. "Aber ich wusste nicht, wie viele Menschenleben man damit tatsächlich retten konnte." Es sollten viele Tausend werden - und es kommen stetig welche dazu.
Vor 25 Jahren ging das von van Zanten bei Bosch entwickelte Elektronische Stabilitätsprogramm - kurz ESP - in der S-Klasse von Mercedes-Benz erstmals in Serie. Heute ist es, wie Sicherheitsgurt oder Airbag, aus den meisten Autos gar nicht mehr wegzudenken. 82 Prozent aller Neufahrzeuge weltweit, heißt es bei Bosch, seien inzwischen mit ESP ausgerüstet. Die Technik baut im Prinzip auf dem Antiblockiersystem (ABS) und der Antriebsschlupfregelung (ASR) auf, kann aber deutlich mehr.
"Das ESP ist dazu da, das Schleudern zu verhindern", sagt der mittlerweile 80 Jahre alte van Zanten, der in den 1980er-Jahren bei Bosch mit der Entwicklung des Systems begann. Das klingt simpel, und im Prinzip passt das System tatsächlich bloß darauf auf, dass das Auto dorthin fährt, wohin es gelenkt wird. Aber ganz so simpel ist es dann doch nicht. Ein Netz aus Sensoren prüft permanent Lenkwinkel, Bremsen, Motorleistung und - ganz wichtig - die sogenannte Gierrate, die Auskunft darüber gibt, ob und wie schnell sich das Auto um seine Vertikal- oder Hochachse dreht, sprich: ob es schlingert. Im Notfall wird das ESP aktiv, bremst einzelne Räder ab, greift gegebenenfalls auch in die Motorleistung ein und hält das Fahrzeug so in der Spur. Bis zu 80 Prozent aller Schleuderunfälle könne das ESP verhindern, heißt es bei Bosch.
Testauto war nach vier Jahren auf der Straße
Van Zanten hatte einst in den USA eine Forschungsarbeit über das Antiblockiersystem bei Nutzfahrzeugen geschrieben. Auch bei Bosch arbeitete er zunächst daran, wie er erzählt, wechselte dann in die Entwicklungsplanung. Dort stieß seine Idee eines Schleuderschutzes auf großes Interesse. Van Zanten begann seine Tüftelei an der Technik zunächst mit Simulationen am Computer. "Am Anfang habe ich allein daran gearbeitet", sagt er. Nach etwa zwei Jahren seien weitere Mitarbeiter dazugekommen. "Dann konnten wir auch ein Fahrzeug ausrüsten", erinnert sich van Zanten. "Nach vier Jahren hatten wir ein Testauto auf der Straße."
Bis zur Serienreife sollte es trotzdem noch dauern. 1992, zehn Jahre nach van Zantens ersten Ideen, tun sich Bosch und Daimler-Benz zusammen und lassen ihre Experten fortan gemeinsam an der Technik arbeiten, die zunächst noch Fahrdynamik-Regelung oder kurz FDR heißt. An ersten Schritten einer solchen Technik hatte der Stuttgarter Autobauer zuvor selbst schon gearbeitet. Aber ein "Schlüsselelement", lobt der Konzern heute, sei der von Bosch produzierte Gierratensensor gewesen.
Weitere drei Jahre später, im Mai 1995, kommt schließlich das neue Mercedes-Benz-Modell S 600 Coupé der Baureihe 140 auf den Markt - das erste Auto, das ESP gleich serienmäßig an Bord hat. Im September des gleichen Jahres kommen laut Daimler die ebenfalls mit einem V12-Motor ausgestatteten S 600 Limousinen und der SL 600 hinzu. Nach und nach ist das System zudem in einigen weiteren Oberklasse-Modellen als Option erhältlich.
Daimler nimmt nach "Elchtest" A-Klasse vom Markt
Dass relativ schnell nicht nur die besonders zahlungskräftige S-Klasse-Kundschaft auf ESP vertrauen kann, liegt an einer heftigen Blamage. Bei einem Autotest in Schweden kippt 1997 eine A-Klasse von Mercedes bei einem Ausweichmanöver um. Der heute legendäre "Elchtest" wird damals zum PR-Debakel für Daimler und seinen Hoffnungsträger aus der Kompaktklasse. Der Autobauer tritt nach kurzem Zögern die Flucht nach vorn an und nimmt die A-Klasse für einige Wochen vom Markt. Als sie wiederkommt, hat auch sie serienmäßig ESP an Bord. Von 1999 an ist das System sogar in allen Mercedes-Benz-Pkw Serie. Und andere Hersteller ziehen nach.
Seit 2014 ist ESP für alle Neufahrzeuge in der EU Pflicht - wenn auch nicht für alle unter diesem Namen. ESP ist eine Daimler-Marke, andere Hersteller haben teils andere Bezeichnungen für die Technik. "Der Elchtest hat natürlich den ganzen Prozess beschleunigt», sagt van Zanten heute. Vorher hätten viele Hersteller die Technik nur als Option in ihren Fahrzeugen anbieten wollen, viele Autokäufer hätten sie zudem gar nicht gekannt und den Wert nicht einschätzen können.
"Für die Verkehrssicherheit war das ein Glücksfall", sagt van Zanten rückblickend. Und natürlich habe auch Bosch selbst profitiert. Der Zulieferer hatte eigentlich nur mit sehr geringen Stückzahlen geplant, und die Entwicklungskosten seien enorm gewesen. "Das hätte lange gedauert, die wieder hereinzuholen."
Die hauseigene Unfallforschung von Bosch geht davon aus, dass das ESP seit seiner Premiere allein in der EU rund 15.000 Menschen das Leben gerettet und knapp eine halbe Million Unfälle mit Personenschaden verhindert hat. In einer Statistik der Unfallforscher des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft für die Jahre 2000 bis 2013 ist von rund 200.000 Unfällen mit Verletzten und rund 6.000 Todesfällen die Rede, die verhindert werden konnten.
Erfinderpreis für Lebenswerk für Anton von Zanten
Bis heute hat Bosch nach eigenen Angaben mehr als 250 Millionen ESP-Systeme gefertigt. Anton van Zanten ist seit 2003 im Ruhestand. 2016 wurde ihm der Europäische Erfinderpreis für sein Lebenswerk verliehen. Seine Erfindungen, so die Begründung der Jury, hätten die Straßen weltweit sicherer gemacht. Mercedes und dem Auto, das dem ESP einst unfreiwillig den Durchbruch brachte, ist der 80-Jährige treu geblieben. Er fährt bis heute A-Klasse. (dpa)
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