Verkehrssicherheit
Vision Zero - realistische Nullnummer?
Nach Auswertung der Crashtest-Organisation Euro-NCAP haben Fahrzeuge mit Notbremsassistenten im Vergleich zu äquivalenten Modellen ohne 38 Prozent weniger Auffahrunfälle
Von Hanne Lübbehüsen/SP-X
Wer an eine Welt ohne Verkehrstote glaubt, hält auch Rosamunde-Pilcher-Filme für realistisch oder Fifa-Funktionäre für uneingeschränkt glaubwürdig – sollte man meinen. Was international "Vision Zero" heißt hat sich in zwei Jahrzehnten weltweit zu einem Ziel von Organisationen, Regierungen und Automobilindustrie entwickelt. Zum Tag der Verkehrssicherheit am 20. Juni stellt sich die Frage: Ist die Nullnummer tatsächlich realistisch?
Neun Menschen sterben im Schnitt jeden Tag auf deutschen Straßen. Das ist kein Vergleich zum traurigen Höhepunkt Anfang der 1970er Jahre, als etwa sechsmal so viele Verkehrsteilnehmer täglich ihr Leben verloren – bei deutlich geringerem Verkehrsaufkommen. Jahrzehnte später, in die Meilensteine wie Einführung der Gurtpflicht fielen, stagniert nun der jahrzehntelange Abwärtstrend: 2014 kamen 29 Menschen mehr ums Leben als im Jahr zuvor; 2013 markierte mit 3.339 Toten den niedrigsten Stand seit Beginn der Erhebung. Auch im ersten Quartal 2015 ist die Zahl der Verkehrstoten leicht gestiegen. Ein ähnlicher Trend zeigt sich EU-weit: Die Zahl sank hier 2014 um lediglich um 0,6 Prozent.
Eine Problematik, die uns in den kommenden Jahrzehnten begleiten wird: Es wird immer schwieriger, die Ergebnisse weiter zu verbessern. Um die letzten Potenziale herauszukitzeln, ist das radikale Ziel – niemand soll mehr im Straßenverkehr sterben - wichtig. Der Lösungsansatz: "Menschen machen Fehler, deshalb muss man die Verkehrswelt so gestalten, dass sie Fehler verzeiht", sagt Ute Hammer, Geschäftsführerin des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR). Heißt: Autobauer müssen ihre Fahrzeuge anpassen, Straßenbauer die Infrastruktur, Gesetzgeber die Vorschriften.
Den Ursprung hat Vision Zero im Arbeitsschutz. 1997 machte die schwedische Regierung das dort definierte Ziel zur gesetzlichen Grundlage ihrer Verkehrspolitik. Schweden ist mittlerweile eines der Länder in Europa mit den wenigsten Verkehrstoten. Im Jahr 2014 kamen pro einer Million Einwohner 29 Menschen bei einem Verkehrsunfall ums Leben, der EU-Durchschnitt liegt bei rund 50 (Deutschland: 42).
Kein Wunder also, dass sich der schwedische Autohersteller Volvo, der in dem skandinavischen Land einen Marktanteil von 20 Prozent hat, die Vision zum Markenkern gemacht hat: Ab 2020 soll niemand mehr in einem neuen Volvo sterben oder ernsthaft verletzt werden, langfristig sollen Volvo-Modelle überhaupt nicht mehr in Unfälle verwickelt werden, heißt es von dem Unternehmen.
Dass Assistenzsysteme die neuen Lebensretter sind, lässt sich mittlerweile belegen: Nach Auswertung der Crashtest-Organisation Euro-NCAP haben Fahrzeuge mit Notbremsassistenten im Vergleich zu äquivalenten Modellen ohne 38 Prozent weniger Auffahrunfälle. Etwa fünf bis zehn Prozent des Pkw-Bestands in Deutschland sind derzeit mit einem Notbremsassistenten ausgerüstet, so Johann Gwehenberger, Unfallforscher bei der Allianz. Selbst Kleinstwagen wie VW Up (Aufpreis 615 Euro) oder Toyota Aygo (Aufpreis 390 Euro) haben das System an Bord.
Der Unfallforscher stellt die Notbremsassistenten auf eine Stufe mit den Lebensrettern Gurt, Airbags oder ESP. Die neue Generation, die auch bei höheren Geschwindigkeiten greift und plötzlich einscherende Fahrzeuge erkennt, könne künftig zwei Drittel der Auffahrunfälle verhindern, glaubt Gwehenberger. Kombiniert mit der Fußgängererkennung, die es schon in Mittelklasse-Fahrzeuge wie die Mercedes C-Klasse geschafft hat, erweitere sich das Potenzial.
"Die Automobilindustrie ist sehr weit", resümiert DVR-Geschäftsführerin Hammer. "Käufer sollten beim Autokauf viel stärker Wert auf Sicherheit erhöhende Fahrerassistenzsysteme legen und nach ihnen fragen!" Organisationen wie Euro-NCAP knüpfen das Bestehen mit einem Top-Crashtest-Ergebnis an immer mehr Bedingungen – wie das Vorhandensein eines Notbremsassistenten. Statt den schwerfälligen Gesetzgebungsapparat in Gang zu setzen – die Diskussion zur Einführung der Gurtpflicht zog sich ewig hin –, wird die Marktmacht der Verbraucher genutzt.
Viel Potenzial sieht DVR-Geschäftsführerin Hammer bei der Infrastruktur: "Straßen müssen so gebaut werden, dass sie Fehler verzeihen". Unübersichtliche Kreuzungen entschärfen, mehr Leitplanken aufstellen, aber auch keine Bäume an Landstraßen mehr pflanzen: 20 Prozent der auf Landstraßen Getöteten sterben laut DVR bei Baumunfällen. "Dass sich etwas tut, sieht man beispielsweise an der zunehmenden Zahl der Kreisverkehre", so Hammer. Oft scheiterten Maßnahmen aber an leeren Kassen.
Wenig kostenintensiv sind unpopuläre Maßnahmen wie Geschwindigkeitsbegrenzungen – der DVR fordert Tempo 80 auf schmalen Landstraßen – und Alkoholverbot am Steuer. "Aus Sicht der Unfallforschung ist ein absolutes Alkoholverbot dringend zu empfehlen", so Gwehenberger, ein generelles Tempolimit auf Autobahnen sei hingegen kein großer Sicherheitsgewinn. Verkehrsexperten halten es aber trotzdem für denkbar, dass derartige Vorgaben aus Brüssel kommen werden – schließlich hat sich auch die EU „Vision Zero“ auf die Fahnen geschrieben.
Dass ein Ziel von null Verkehrstoten tatsächlich Realität werden kann, zeigt übrigens eine Karte der Dekra-Unfallforschung (http://www.dekra-vision-zero.com/map/). Darauf zu sehen: Mehr als 800 Städte mit über 50.000 Einwohnern in Europa, den USA und Japan, die zwischen 2009 und 2013 mindestens in einem Jahr keine Verkehrstoten verzeichneten – 132 davon liegen in Deutschland.
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(Foto: EuroNCAP)
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